Zum Buch
Das Buch besteht aus 12 Kapiteln auf etwas mehr als 200 Seiten. Es gibt ein Vorwort und einen Anhang mit Literaturverzeichnis. Inhaltlich arbeitet sich Frey im ersten Teil vom allgemeinen Befund der hohen emotionalen Belastung von Kindern zu den Ursachen vor - wie traumatisches Geburtserlebnis, „Massenhaltung“ von Kleinkindern, Ganztagsbetreuung in der Schule, Bildungspläne und Pandemie. Sie thematisiert konsequent die Folgen der festgestellten „Verstaatlichung“ für Individuum, Wirtschaft und Gesellschaft. Im zweiten Teil fordert sie einen radikalen Schnitt und entwirft die Vision einer neuen Gesellschaft. Um das Haus zu sanieren, bräuchte es alle: die Politik, die Institutionen, die Fachkräfte, die Eltern und die Wirtschaft. Die Methoden seien veränderte (Aus-)Bildungsinhalte, Digitalisierung, verbesserte Kommunikation und ein neues kollektives Bewusstsein der Zusammengehörigkeit.
Zum Punkt
Freys Buch ist im Grunde eine Fortsetzung ihres ersten Buches mit dem Titel: Kindern geben, was sie brauchen. Wie sich Kinder frei und selbstbewusst entwickeln. Während dort der Blick auf die Kinder im Vordergrund stand, wird nun das System kritisiert, das Kinder in ihrer individuellen Entwicklung stört. Schonungslos, kritisch und auch selbstkritisch schreibt sich Frey den Frust als Therapeutin und Mutter von der Seele und es wird deutlich: Kind sein macht heute schon lange keinen Spaß mehr. Wo ist die achtsame Geburtserfahrung, wo die bindungsorientierte Fremdbetreuung, wo der Platz zum Spielen und die bedeutsamen Lernerfahrungen? Die Problematik von Optimierung, Regulierung und Traumatisierung wird klar und mit Daten belegt dargestellt. Soweit nachvollziehbar und ernüchternd.
Weniger klar ist der zweite Teil des Buches, in dem es um Lösungen geht. Denn um die pädagogische Klimakrise abzuwenden und eine „neue Gesellschaft“ zu schaffen, braucht es eine gute Prise Utopie. Die Politik müsse wieder angstfrei regieren und Verantwortung übernehmen, Kliniken, Kindertageseinrichtungen (im Buch ist tatsächlich noch von „Kindergärten“ die Rede) und Schulen müssten neue Wege gehen. Auch Ausbildungs- und Studiengänge müssten reformiert werden. Pädagogische Fachkräfte und Lehrkräfte müssten die Beziehungsfähigkeit als wichtigsten Indikator ihrer Arbeit stärken und Eltern mündig werden. Auch Wirtschaftsunternehmen müssten das Kindeswohl als Ressource entdecken, in die es zu investieren gelte.
Viele Fragen und Impulse zum Nachdenken, die einen „Neustart“ zum Ziel haben, durchziehen zweiten Teil. So liest sich das Buch trotz klarer Befunde eher wie eine aktivistische Streitschrift, die etwas undifferenziert und manchmal pauschalisierend daherkommt. So werden Kaiserschnitte mit Scheidungsraten in Verbindung gebracht, politische Entscheidungen mit Entmündigung und bewusster Panikmache, Lehrkräfte werden der Instrumentalisierung durch den Staat verdächtigt und der Politik wird eine „institutionalisierte Kindeswohlgefährdung“ (S. 117) vorgeworfen. Eleganter wäre es gewesen, es bei einer daten- und beobachtungsgestützten Aufklärung zu belassen und den stark persönlich gefärbten Inspirationsteil wegzulassen. Der Appell ist dennoch unüberhörbar: Veränderung kann nur gesamtgesellschaftlich geschehen. Dazu muss sich das kollektive Mindset ändern, aber das fängt bei jedem Einzelnen an. Vollste Zustimmung!
Claudia Mohr
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