Leonardo da Vinci - allseits bekannt und doch wirft sein Leben und Werk immer wieder Fragen auf. Zum 500. Todestag des Genies erschien eine neue Biographie, die wieder einmal versucht, den Künstler literarisch zu portraitieren. Der Germanist und Historiker Karl-Rüdiger Mai hat es sich dabei zur Aufgebe gemacht, Licht in das rätselhafte Dunkel zu bringen, das den Mythos Leonardo umgibt. Dazu tastet er sich behutsam an die Gegebenheiten heran und entfaltet faktenreich historische, geopolitische und geistesgeschichtliche Zusammenhänge.
Epoche und Kontext
Als Leonardo am 2. Mai 1519 in Amboise/Frankreich starb, war er bereits ein Mythos. Er hinterließ der Welt etwa 15 Gemälde und über 4.000 Zeichnungen. Als Zeitgenosse von Michelangelo, Machiavelli und Savonarola lebte der Künstler in der italienischen Renaissance. Diese Zeit gilt als eine der interessantesten und produktivsten Epochen der Menschheitsgeschichte. Florenz, Padua und Mailand waren das damalige Zentrum der Welt, heute etwa vergleichbar mit dem Big Apple an der Ostküste der Vereinigten Staaten oder der Bay Area in Kalifornien. Hier wurde das Leben laufend neu erfunden und Wissen generiert, egal ob in der Philosophie, Literatur, Malerei, Bildhauerei, Architektur oder den Naturwissenschaften.
Leonardo als Schöpfer
Da Vinci wusste diesen Standortvorteil klar zu nutzen, obwohl er aufgrund mangelnder formaler Bildung keinen Zugang zum wissenschaftlichen Diskurs hatte. Er führte ein rastloses Leben, stets auf der Suche nach neuen Ideen und Mäzenen. So umgänglich sich Leonardo als Architekt, Unterhalter und Musiker im Gesellschaftlichen gab, so schwierig war er als Künstler. Er nahm nur wenig Aufträge an und ließ des Öfteren Werke unvollendet, da er an seinen eigenen Ansprüchen zu scheitern drohte. Sein Lebensstil würde heute vielleicht zur Bezeichnung alternativ passen: Vegetarier, Pazifist, bekennender Homosexueller und Christ.
Grundsätzlich lebensfroh und gesellig suchte Da Vinci doch als Naturforscher von Zeit zu Zeit die Abgeschiedenheit. Die Faszination von Wasser, der Luft und dem Aufbau des menschlichen Körpers trieb ihn lebenslänglich an. Sein unstillbares Interesse am Vogelflug, den Gesteinen und dem Weg des Wassers zeigten sich in unzähligen Naturskizzen. Er wollte die Rätsel der Menschheit entschlüsseln und dem Schöpfer der Welt auf die Spur kommen. Dazu schuf er unzählige Skizzen, die er in vielen Notizbüchern sammelte und eines Tages herauszugeben gedachte. Doch dazu würde es nie kommen, denn er scheiterte an ihrer Systematik. So blieb sein großes Lebenswerk bis heute unvollendet und steigerte nur den Mythos.
Leonardo als Geschöpf
Der Künstler gilt als hochbegabtes Genie, von der eigenen Kreativität sowohl überzeugt als auch getrieben. Er brach immer wieder mit Konventionen, suchte stets das Besondere und versuchte, seinen Werken einen tieferen Sinn zu verleihen. Seine Werke sollten Geschichten erzählen und ihn somit unsterblich machen. Dazu musste Leonardo einen neuen Denkansatz entwickeln, der nicht vom damals gängigen Neuplatonismus geprägt war, sondern Kosmos und Mensch in neue Zusammenhänge stellte. Dazu arbeitete er induktiv und versuchte durch die Betrachtung zum Wesenskern vorzudringen und Ordnung und Regelhaftigkeit der Natur abzubilden.
Mai skizziert Leonardo darüber hinaus als Geschöpf Gottes, das zeitlebens bemüht war, den Schöpfer der Welt im Spiegel der Natur zu entdecken. Mai legt den Schwerpunkt dabei auf die Weltanschauung Leonardos im wahrsten Sinne. Er versucht, die Perspektive des Künstlers einzunehmen und die Welt mit dessen Augen zu betrachten. Mai ist überzeugt, „dass Leonardo als Christ gelebt hat und gestorben ist“ trotz einer gewissen Kirchenferne (S. 383). Diese Setzung ist strittig, führt jedoch zu einer neuen Sichtweise, mit der Mai bekannte künstlerische Werke des Universalgenies frisch interpretiert. Lebenspraktiken, Karrierestreben oder Freigeisttum als Schlüssel zum Verständnis von Leonardos Leben werden so zweitrangig dargestellt und der Weltanschauung untergeordnet.
Geheimnisdämmerung
Eine Biographie, die sich langsam vor dem erzählerischen Hintergrund der Renaissance entfaltet, immer wieder innehält, historische Bezüge herstellt und zum Betrachten der Werke Leonardos einlädt, optisch und literarisch. Die biographischen Einzelheiten werden etwas bruchstückhaft, manchmal flüchtig dargestellt und stets mit eigenen Deutungen versehen. Es fällt allerdings bei aller Detailgenauigkeit der geschichtlichen Einzelheiten schwer, den großen Überblick zu behalten. Intensiv, empathisch und facettenreich beeindruckt Mai durch die intensive Auseinandersetzung mit den Werken des Künstlers und erhellt so das Dunkel, das den Renaissancemagier umgibt. Ein lesenswertes Buch, das jedoch ohne Hintergrundwissen nur schwer einzuordnen ist. Mai lüftet das Geheimnis nicht, er nähert sich jedoch an.
Claudia Mohr
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