Thierse: Religiöse Vielfalt verlangt gemeinsames ethisches Fundament

Der frühere Bundestagspräsident Wolfgang Thierse (SPD) warb für einen konstruktiven Umgang mit der religiös-weltanschaulichen Vielfalt in der Demokratie. In einer Rede zum Jahresempfang der Evangelischen Zentralstelle für Weltanschauungsfragen der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) betonte Thierse, dass religiöse Menschen nicht weniger modern seien als nichtreligiöse. Trotz Säkularisation erweise sich Religion als ein konstitutiver Bestandteil der modernen Gesellschaft.

Die Bundesrepublik sei von einem besonderen Verhältnis von Staat und Kirche geprägt. Der Staat selbst sei nicht religiös und nehme gegenüber Religionen und Weltanschauungen eine „respektvolle Nichtidentifikation“ ein. Zugleich gebe der Staat seinen Bürgern ausdrücklich Raum für religiöse Bekenntnisse. Die religiöse Neutralität des Staates bestünde daher nicht darin, dass er Religion aus der Öffentlichkeit zurückdränge, sondern dass der Staat das Miteinander verschiedener Religionen ermögliche.

Für den Zusammenhalt dieser widersprüchlichen Gesellschaft bedürfe es nach den Worten von Thierse grundlegender Gemeinsamkeiten, die jenseits von Sprache, Recht und Wirtschaft legen. Notwendig für das Miteinander in der Vielfalt sei ein gemeinsames ethisches Fundament der Werte und Normen. Diese Voraussetzung könne der Staat nicht selbst garantieren. Die Verantwortung dafür trügen alle Bürger, insbesondere auch die kulturellen Träger, die Kirchen und Religionsgemeinschaften. Die christlichen Kirchen seien dabei Dialogpartner ohne exklusive Deutungshoheit, die sich jedoch auch nicht leisetreterisch einbringen sollten.

Der Zusammenhalt der widersprüchlichen Gesellschaft sei nur durch Toleranz realisierbar. In der Toleranz komme die Überzeugung zum Ausdruck, dass der Andere nicht nur geduldet werde, sondern dass es ein grundlegendes Recht auf Anderssein gebe. „Die Toleranz ist der Ausdruck gleicher Lebens- und Freiheitsrechte der Menschen unterschiedlicher Überzeugungen“, betonte Thierse im Anschluss an den Philosophen Jürgen Habermas. Die religiös-weltanschauliche Toleranz könne so als ein Instrument der Gerechtigkeit das Band bilden, das die Gesellschaft in ihrer religiösen Vielfalt verbinde.

Christen, Muslime, Juden, Buddhisten und Agnostiker seien gleichermaßen Teile des Pluralismus. Niemand stünde außerhalb. Das käme nach Thierses Überzeugung in dem Satz „Der Islam gehört zu Deutschland“ zum Ausdruck. Ziel müsse es dabei sein, dass sich in Deutschland religiöse Gemeinschaften weder von der Gesellschaft abkapselten noch ihre religiöse Identität aufgäben. Integration bedeute, dass sich die Gesellschaft einem Prozess der Aushandlung von Zugehörigkeit, Identität und Teilhabe stelle. Insbesondere vor dem Hintergrund hoher Flüchtlingszahlen führe dieser Prozess zu Ängsten, weil bisher Vertrautes als unsicher erscheine. Dabei werde auch Religion an sich abgewehrt, weil sie als konfliktbeladen angesehen werde. Die dem Terror entgegnende Beschwörung, dass der Terror nichts mit dem Islam zu tun habe, hält Thierse für nicht überzeugend. Stattdessen müsse zwischen einem friedliebenden und einem gewaltvollen Verständnis im Islam differenziert werden, um so einzugrenzen, welcher Islam zu Deutschland gehöre.

Für ein gemeinsames ethisches Fundament sei es unabdingbar, einander zuzuhören und verstehen zu wollen. Die religiöse Pluralität charakterisierte Thierse deshalb nicht als Idylle, sondern als Anstrengung, die mit einem gesellschaftlichen Wandel einhergehe. „Wir haben noch viel Verständigungsarbeit vor uns“, prognostizierte Thierse, „damit Toleranz als Anerkennung und nicht nur als Duldung verstanden wird.“

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