Dieter Fauth, "Wertheim im Nationalsozialismus aus Opferperspektiven"

Ostfildern | APD

Dieter Fauth, "Wertheim im Nationalsozialismus aus Opferperspektiven. Gedenkbuch zum Projekt Stolpersteine", Verlag Religion & Kultur, Zell am Main, 2013, gebunden, 764 Seiten, 48,00 Euro, ISBN 978-3-933891-26-6.

Ostfildern, 23.08.2014/APD Das umfangreiche Werk besteht aus den vier Teilen: (1) Wertheimer Ermordete im Rahmen der "Euthanasie"-Verbrechen im NS-Regime, (2) Lebens- und Leidensgeschichten rassistisch verfolgter Wertheimer: Juden sowie Sinti und Roma, (3) Politisch und religiös Andersdenkende im Visier der Nazis, (4) Erinnernde Rückblicke mittels Interviews mit Wertheimern, die selbst Zeitzeugen waren oder Kinder von damaligen Zeitzeugen sind. Die Seiten 733-764 enthalten Verzeichnisse und Register (ungedrucktes Archivgut, Literatur, Abkürzungen sowie ein Ortsregister).

Mit diesem Gedenkbuch soll möglichst aller vom NS- Regime verfolgten und ermordeten Bürger von Wertheim gedacht werden. Ermordet wurden Behinderte und psychisch Kranke, rassistisch Verfolgte, Juden und ein Mädchen aus der Volksgruppe der Sinti sowie politisch oder religiös Verfolgte. Außerdem will das Buch auch der verfolgten Wertheimer gedenken, die das NS- Regime überlebt haben.

Was damals geschah, wird an den Lebensläufen im Buch ersichtlich. Zu den Ermordeten gehörte auch der am 31. Mai 1876 in Wertheim geborene August Offner. Er besuchte die Volksschule mit "angeblich gutem Erfolg". Dann folgte eine Lehre in einer Bürstenfabrik mit anschließender Beschäftigung im Büro als Schreiber. Hier zeigten sich bereits erste Anzeichen einer geistigen Erkrankung. August versah sich mit Titeln und fühlte sich zu etwas Höherem berufen. Nach Ableistung eines zweijährigen Militärdienstes, trat er in eine studentische Verbindung ein und spielt auch dort den großen Herrn. Er verschaffte sich Geld durch Heiratsschwindelei, sodass er von 1904 bis 1908 im Gefängnis in Bruchsal einsaß. Anschließend kam er wegen einer Form von Schizophrenie mit Wahnideen bis 1940 in eine Anstalt in Wiesloch. Dieser Anstalt wurde 1934 gemeldet, dass der Patient erbkrank sei. Am 20. Juni 1940 erfolgt August Offners Deportation nach Grafeneck. Dort wurde er am gleichen Tag ermordet.

Ermordet als rassisch Verfolgte wurde auch die 1881 in Wertheim geborene Michaeline Bergmann. Sie war ledig und ohne Beruf. Sie pflegte ihre Mutter bis zu deren Tod 1910. Deportation 1940 ab Wertheim in ein Lager in Südfrankreich, von dort 1942 auf mehreren Umwegen in das KZ Auschwitz. Alle etwa 1.000 Verschleppten kamen aus den Lagern Milles, Recebedou, Noe oder Rivesaltes. In Auschwitz wurden 875 Personen sofort vergast und 115 zunächst selektiert. Nur eine Person aus diesem Konvoi überlebte den Nationalsozialismus. Erst 1954 wurde Michaeline Bergmann vom Amtsgericht Wertheim zum 8. Mai 1945 für tot erklärt.

Überlebt hat als rassisch Verfolgter auch Sigmund Cahn. Der Großhandelskaufmann und wohlhabender Versicherungsvertreter, geboren 1874 in Wertheim, starb 1962 in New York. Er war unter anderem Vorstand der jüdischen Gemeinde, des Wertheimer Synagogenrats und der Zionistischen Ortsgruppe. 1940 erfolgte die Deportation von Wertheim nach Gurs. Cahn und seine Frau Florine konnten offenbar aus dem Lager Les Milles 1941 entkommen und emigrierten im gleichen Jahr in die USA.

Beim Projekt "Stolpersteine" wird für Todesopfer der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft vor den Häusern, in denen sie gelebt haben, je ein Gedenkstein in Pflastersteingröße verlegt. Dieses Kunstprojekt ist besonders in Deutschland und teilweise auch in weiteren europäischen Staaten verbreitet. Wertheim ist damit Teil des weltweit größten dezentralen Kunstprojektes. Aufgenommen sind durch Nationalsozialisten ermordete Frauen und Männer, die bei Hitlers Machtübernahme 1933 in Wertheim lebten oder zeitnah dazu ab 1920. Damit wird auch Opfern gedacht, die aus Wertheim verzogen und von einem andern Ort aus deportiert wurden. Insgesamt kamen 106 jüdische Wertheimer Mitbürger auf unmenschliche Weise ums Leben.

Der durch viel Fleiß zusammengetragene Erinnerungsband lässt vor allem durch seine zahlreichen Familiengeschichten und Lebensläufe das damalige Geschehen noch einmal lebendig werden.

Dr. Wolfgang Tulaszewski
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