Friedensau bei Magdeburg, 11.06.2012/APD Als zu Beginn des Ersten Weltkrieges viele Wehrpflichtige einberufen wurden, kam es unter den deutschen Adventisten zu einer unterschiedlichen Beurteilung, wie man sich in dieser Krisensituation zu verhalten habe. Während die Mehrheit dem Aufruf ihrer Kirchenleitung folgte und der Einberufung zum Militär nachkam, äußerten Kritiker dieser Entscheidung deutlich ihr Missfallen. Sie waren der Meinung, dass angesichts der von ihnen im Zusammenhang mit dem Kriegsausbruch nahe erwarteten Wiederkunft Jesu keine Beteiligung in der Armee mehr angeraten sei.
Schon vor Kriegsausbruch wurde der Militärdienst zum Spannungsfeld der adventistischen Kirchengemeinden, Adventgemeinden genannt, gegenüber dem Staat. Adventisten feiern den in der Bibel genannten Sabbat (Samstag) als Ruhetag, an dem sie alle Arbeiten zu vermeiden versuchen. Deswegen bemühten sie sich auch beim Militär, an diesem Tag dienstfrei zu erhalten. In einigen Fällen ermöglichten die Vorgesetzten den Rekruten die Sabbatfeier. Wo der Bitte um Dienstbefreiung am Samstag nicht entsprochen wurde, werteten die Militärbehörden die adventistische Sabbatruhe als Dienstverweigerung und bestraften die jungen Rekruten entsprechend.
Die erste adventistische Gemeinde in Deutschland wurde schon 1875 gegründet, doch erst gut zehn Jahre später begann ein systematischer Gemeindeaufbau. Deshalb betraf die Militärfrage in der Zeit bis zur Jahrhundertwende nur wenige Adventisten. Das schnelle Wachstum der Adventgemeinden in Mitteleuropa führte allerdings zu einer veränderten Situation. Bei Kriegsausbruch gab es in Deutschland etwa 15.000 erwachsen getaufte Adventisten. Von der allgemeinen Mobilmachung Anfang August 1914 waren rund 3.000 von ihnen direkt betroffen. Jetzt ging es nicht mehr um Einzelne, sondern um eine beachtliche Gruppe.
Deshalb entstand in den Reihen der Adventgemeinden bei Kriegsausbruch eine krisenhafte Situation. Sie wurde noch dadurch verstärkt, weil viele Adventisten davon ausgingen, dass das Ende der Welt und damit die Wiederkunft Jesu in einem direkten Zusammenhang mit einem Krieg stehen würde, in dem das Osmanische Reich eine entscheidende Rolle spielen sollte. Der Ausbruch des Ersten Weltkrieges auf dem Balkan schien für viele genau in die gedachte Richtung zu deuten. In der angespannten Situation trug ein Schreiben der adventistischen Kirchenleitung aus Hamburg zur Polarisierung der Fronten bei. Durch die Abwesenheit seines Vorstehers übernahm dessen Sekretär, Guy Dail, die Initiative. In einem Rundschreiben an alle deutschen Adventgemeinden forderte er auf, dass Adventisten als gute Staatsbürger dem Militärdienst willig Folge leisten und dabei auch am Samstag mit der Waffe in der Hand zur Verteidigung des Vaterlandes bereit sein sollten.
Dieses Schreiben bewirkte keine Befriedung der Situation, sondern führte in einem längeren Prozess zur Spaltung der Adventisten. Die Mehrheit akzeptierte die Forderungen des Staates und der Kirchenleitung, eine kleinere Gruppe opponierte. Aus diesen Kritikern, die ihre Opposition teilweise damit begründeten, dass sie für den Frühsommer 1915 die Wiederkunft Jesu erwarteten, bildete sich im Laufe des Jahres eine feste Gruppe. Während einige Kritiker später wieder ihren Platz in den Adventgemeinden fanden, sammelte sich die Mehrheit der Widerständler in einer Gruppe, die sich selbst "Reformationsbewegung der Siebenten-Tags-Adventisten" nannte und den Militärdienst grundsätzlich ablehnte.
Das Rundschreiben von Guy Dail wurde von der adventistischen Weltkirchenleitung in den USA kritisiert und mit ähnlichen Verlautbarungen von der deutschen Freikirchenleitung bereits 1920 mit "Bedauern" zurückgezogen. Doch das schlug genauso fehl wie Versöhnungsversuche von beiden Seiten nach dem Ersten Weltkrieg. Schließlich standen sich während der Weimarer Republik zwei adventistische Lager gegenüber. Die traditionelle Freikirche der Siebenten-Tags-Adventisten und die Reformationsbewegung, die allerdings durch interne Auseinandersetzungen in verschiedene Gruppen zerfiel. Die meisten lösten sich noch vor Beginn der NS-Herrschaft auf. Die verbliebenen kamen schon bald in das Visier der neuen Machthaber, da sie auch die Beteiligung an Wahlen ablehnten. Im Sommer 1936 löste die Gestapo die Reformationsbewegung auf, für kleinere Gruppen kam das Verbot noch im gleichen Jahr, beziehungsweise 1937 und 1942. Nicht wenige Mitglieder der Reformationsbewegung suchten in dieser Zeit wieder Anschluss an die Adventgemeinden in ihrer Nähe, da auf lokaler Basis in den meisten Orten die Kontakte zwischen beiden Glaubensgemeinschaften erhalten geblieben waren.
Nach dem Verbot setzte eine Reihe von Prozessen ein, bei denen ehemalige Mitglieder und Verantwortungsträger wegen der illegalen Weiterführung einer verbotenen Organisation bestraft wurden. Die erhaltenen Gerichtsprotokolle und -urteile bestätigen, dass die Grenze zwischen der Reformationsbewegung und der Freikirche der Siebenten-Tags-Adventisten nicht immer klar gezogen war. Seit Kriegsbeginn 1939 kam es auch zu Prozessen wegen Wehrdienstverweigerung. Obwohl bis heute genauere Forschungen fehlen, kann davon ausgegangen werden, dass nach den Zeugen Jehovas und römisch-katholischen Priestern die Angehörigen der Reformationsbewegung die drittgrößte Märtyrergruppe im religiös motivierten Widerstand gegen das NS-Regime darstellen.
Heute gehören zur Freikirche der Siebenten-Tags-Adventisten weltweit über 17 Millionen erwachsen getaufte Mitglieder; in Deutschland sind es rund 35.000. Die Reformationsbewegung erlebte 1951 eine Spaltung, sodass es seitdem weltweit zwei Gruppen mit aktuell jeweils etwa 35.000 Mitgliedern gibt. In Deutschland zählt die "Internationale Missionsgesellschaft der Siebenten-Tags-Adventisten Reformationsbewegung" (IMG) circa 350 Mitglieder. Die "Gemeinschaft der Siebenten-Tags-Adventisten Reformationsbewegung" (STAR) ist mit etwa 200 Mitgliedern in der Bundesrepublik etwas kleiner. Weitere Informationen im Internet zur Freikirche unter www.adventisten.de, zur IMG unter www.reform-adventisten.net und zur STAR unter www.sta-ref.de.
Dr. Johannes Hartlapp
(Hinweis der Redaktion: Der Kirchenhistoriker Dr. Johannes Hartlapp ist Dekan des Fachbereichs Theologie an der Theologischen Hochschule der Freikirche der Siebenten-Tags-Adventisten in Friedensau bei Magdeburg.)
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