Entwicklungshilfe für die Kirchen

Kommentar zum Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 1. Dezember 2009 über die Ladenöffnungszeiten an Adventssonntagen

Das Bundesverfassungsgericht hat eindeutig geurteilt: Der Sonntagsschutz im deutschen Grundgesetz ist wichtiger als das Geschäftsinteresse. Die Väter und Mütter des Grundgesetzes haben den Artikel 139 der Verfassung der Weimarer Republik unverändert übernommen, in dem es heißt, dass der Sonntag und die Feiertage als "Tage der seelischen Erhebung" geschützt bleiben. Damit müsse eine Arbeitstätigkeit an diesen Tagen eine Ausnahme bleiben, so das Gericht. Hintergrund dieses Urteils war eine Klage der evangelischen und katholischen Kirche gegen das Ladenöffnungszeitgesetz in Berlin, das es den Geschäften erlaubt, an zehn Sonntagen im Jahr – inklusive allen vier Adventssonntagen – geöffnet zu haben. Vor allem Letzteres wurde vom Gericht als nicht mit dem Grundgesetz vereinbar erklärt.

Das Urteil überrascht nicht, denn der Wortlaut des entsprechenden Paragraphen ist eindeutig genug, um ihn höher zu gewichten als den Wunsch nach Geschäft. Interessant ist vielmehr, dass die meisten Kommentare deutscher Tageszeitungen dieses Urteil gut und richtig finden – und das in einem Land, in dem sich der christliche Glaube auf dem Rückzug befindet. Ob diese Kommentare tatsächlich die Mehrheitsmeinung der Bevölkerung widerspiegeln, ist allerdings noch nicht ausgemacht, denn verkaufsoffene Sonntage werden meist sehr gut genutzt. Der Sonntag sei ein "Geschenk der Christen an die Gesellschaft", so die Präses der Synode der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) und Vizepräsidentin des deutschen Bundestages Katrin Göring-Eckhardt. Vielleicht ist es aber genau umgekehrt – der Sonntag ist ein Geschenk der Gesellschaft beziehungsweise des Staates an die Christen.

Genaugenommen leistet das Verfassungsgericht mit seinem Urteil Entwicklungshilfe für die Kirchen. Sie verlieren immer mehr Mitglieder, und von denen, die bleiben, feiert nur eine kleine Minderheit den Sonntag im christlichen Sinne mit Gottesdienstbesuch, Arbeitsabstinenz und Gemeinschaftspflege. Ohne staatlichen Schutz wäre der Sonntag möglicherweise längst zu einem "zweiten Samstag" geworden, an dem zwar nicht überall regulär gearbeitet wird, die Geschäfte aber geöffnet haben und viele Dienstleistungen angeboten werden. Es würde sich zeigen, dass die Werte des ursprünglichen biblischen Ruhetages – des Sabbats – die Umdatierung auf den Sonntag nicht überlebt haben, sondern nur mit Hilfe staatlicher Gesetze ein trügerisches Dasein führen.

Allzu häufige Ladenöffnungszeiten an Sonntagen verletzten die Religionsfreiheit, so das Bundesverfassungsgericht. Und der Vorsitzende der katholischen Bischofskonferenz, Erzbischof Robert Zollitsch, sowie die EKD-Ratspräsidentin, Landesbischöfin Margot Käßmann, betonten in einer gemeinsamen Stellungnahme, der Sonntag sei ein "Raum für die Freiheit der Religionsausübung". Dieser Raum besteht jedoch nur für Menschen, die den Sonntag feiern. Für die 120.000 Juden und 35.000 Adventisten in Deutschland, die den Sabbat (Samstag) feiern, gilt dieser Freiraum nicht automatisch. Sie müssen ihn sich erkämpfen, notfalls vor Arbeitsgerichten wie bereits mehrfach geschehen. Sollte sich die Auffassung durchsetzen, mit dem Sonntagsschutz sei der religiösen Freiheit, einen Ruhetag zu halten, Genüge getan, hätten diese Gläubigen es noch schwerer als bisher. Ob sie dann mit der Solidarität der beiden großen Kirchen rechnen können?

Thomas Lobitz

(Hinweis der Redaktion: Thomas Lobitz ist Zeitschriftenredakteur beim Advent-Verlag Lüneburg)
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