Das Dilemma der römisch-katholischen Kirche

Ein Kommentar zum Besuch von Papst Benedikt XVI. in Deutschland von Thomas Lobitz

Ostfildern, 24.09.2011/APD Der deutsche Papst Benedikt XVI. besuchte seine Heimat und traf auf ein gespaltenes Land. Während bei seiner Wahl vor sechs Jahren viele deutsche Katholiken jubelnd "Wir sind Papst!" ausgerufen hatten, haben im vergangenen Jahr so viele Menschen wie nie zuvor seiner Kirche in der Bundesrepublik den Rücken gekehrt. Und während die Jugendbewegung "Generation Benedikt" und andere papsttreue Katholiken die dritte Deutschlandreise ihres Kirchenoberhaupts enthusiastisch begrüßten, spielte ein Protestbündnis, das sich unter dem Motto "Keine Macht den Dogmen" zusammengefunden hatte, eine ganz andere Begleitmusik. Die über 60 Organisationen, darunter Untergruppen von Gewerkschaften und Parteien, Atheisten- und Homosexuellenverbände und andere wie "Pro Familia" oder "Amnesty international", kritisierten die aus ihrer Sicht "menschenfeindliche Geschlechter- und Sexualpolitik" der römisch-katholischen Kirche.

Deutlich milder, aber in der gleichen Stoßrichtung, bemängelten zahlreiche katholische Laien – darunter Bundespräsident Wulff – das Festhalten der katholischen Kirche am Zölibat, an der Weigerung, Frauen zu Priestern zu weihen, am Verbot der künstlichen Empfängnisverhütung und an der moralischen Bewertung praktizierter Homosexualität. Besondere Empörung in der Öffentlichkeit rief im letzten Jahr die mangelhafte Aufarbeitung der vielen Fälle sexueller Gewalt in katholischen Einrichtungen hervor. Auch sie war beim Papstbesuch deutlich spürbar.

All dies zeigt die große Aufmerksamkeit, die dem Papst auch heute noch in dem eher evangelisch geprägten und mittlerweile ziemlich säkularisierten Deutschland zuteil wird. Es ist für eine Kirche mit 25 Millionen Mitgliedern keine Kunst, das Berliner Olympiastadion mit Anhängern zu füllen – das gelang sogar mittelmäßigen Komikern. Aber Befürworter und Gegner derart in Wallung zu bringen schafft keiner, der den Menschen gleichgültig wäre. Auch eine Einladung, vor dem Bundestag zu sprechen, bekäme niemand, den man für irrelevant hielte. Es war die erste Rede eines Religionsführers vor einem bundesdeutschen Parlament. Dieses Privileg wurde nur mühsam durch den Hinweis überspielt, dass der Papst als ein Staatsoberhaupt dazu legitimiert sei. Abgesehen davon enthielt seine Rede viele kluge Gedanken.

Interessant ist, dass fast immer die Sexualmoral der katholischen Kirche im Zentrum der Auseinandersetzungen steht – und nicht der christliche Glaube oder gar Gott selbst. Sexualfragen berühren das Intimste des Menschen. Darin ähneln sie der praktizierten Frömmigkeit, die den Menschen ebenfalls im Innersten beeinflusst. Gleichzeitig beansprucht der christliche Glaube das Primat über das Verhalten (ein Christ fragt sich: Was würde Jesus an meiner Stelle tun?), verweist auf die Nachfolge Jesu und die göttlichen Gebote und bindet so die Freiheit des Menschen an den Willen Gottes, wie er in der Bibel zum Ausdruck kommt.

Säkulare Menschen haben damit offenbar ein grundsätzliches Problem, denn sie legen Wert auf eine uneingeschränkte Autonomie. Das ist in einem freien Land im Rahmen der geltenden Gesetze ihr gutes Recht. Dadurch fehlt ihnen aber das Verständnis dafür, was gläubige Menschen an- und umtreibt. Stattdessen stürzen sich Religionskritiker (keinesfalls nur die Papstkritiker!) auf alles, was ihre totale Selbstbestimmung bedrohen könnte – insbesondere in einer solch intimen Angelegenheit wie dem Sexualverhalten.

Viel sinnvoller wäre es deshalb (für alle Kirchen), grundlegende Fragen in den Mittelpunkt zu rücken – Gibt es Gott? Wie ist Gott wirklich? Wie kann ich ihn erfahren? Wie holt er mich aus meiner Verlorenheit heraus? – und nicht Fragen des christlichen Verhaltens. Hier wird das Dilemma der römisch-katholischen Kirche deutlich: Weil sie vorwiegend sich selbst thematisiert und verkündet – und weniger diese grundlegenden Fragen –, hat sie die Aufmerksamkeit der Menschen auf sich (und somit auch auf ihre Mängel) und nicht auf Gott gerichtet. Es geht zu oft um die Treue zur Kirche, zum Lehramt, zu den Dogmen, zum Papst. Es geht um Sakramente, Liturgie, kirchliche Autorität und das katholische Selbstverständnis als "einzige echte Kirche". Manchmal geht es auch um Politik oder Ethik. Viel zu selten geht es um Jesus, Bibel, Erlösung, Nachfolge, Evangeliumsverkündigung, Gemeinschaft, Dienst und Hoffnung auf die Wiederkunft Jesu.

Während der Papst mit seiner Deutschlandreise manche Katholiken in Aufruhr versetzte, sind viele Protestanten froh über seinen Besuch und das Zusammentreffen mit ihm. So bezeichnete der Vorsitzende des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland, Präses Nikolaus Schneider, in einem Interview mit der Rheinischen Post den Papst als "faktisch in bestimmten Fragen Sprecher für die Menschheit – in Sachen Gerechtigkeit, Umgang mit den Armen, Bewahrung der Schöpfung zum Beispiel". Vielleicht wird das Oberhaupt der römisch-katholischen Kirche ja doch noch so etwas wie ein "Ehrenprimas" der Christenheit.

(Hinweis der Redaktion: Thomas Lobitz ist Redakteur der Gemeindezeitschrift "Adventisten heute" im Advent-Verlag Lüneburg.)
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